Montag, 6. Oktober 2008

Einer mit Steuermann, oder: Auf der Suche nach der Ideallinie

Wer´s noch nicht weiß: Die Ideallinie ist eine gedachte Linie, die auf einer Rennstrecke den schnellstmöglichen Weg beschreibt (Wikipedia). Bekanntlich war ich ja ein Verächter dieser Linie. Meine Verachtung für sie war so groß, dass ich sie bisher unter allen Umständen und meistens mit erstaunlichem Erfolg vermieden habe, und zwar nicht nur im Training (was mich mit dem Scheiss-Ergo praktisch täglich vor unlösbare steuertechnische Probleme stellte), sondern auch im Rennen (vgl. GP, München, Kirchzarten, Odenwald usw.). Obwohl ich natürlich um die strategischen Vorteile der schnellen Linie wusste und mir durchaus klar war, dass insbesondere auf kurvigem Geläuf es sehr sinnvoll sein kann, den Kurvenradius zu vergrößern und möglichst früh wieder aus der Kurve heraus zu beschleunigen, bevorzugte ich regelmäßig sowohl im Zweikampf als auch im Kampf gegen mich und das Scheiss-Ergo statt der Ideallinie die sogenannte Kampflinie zur Verteidigung der: Führungsposition, ehklar. Auch wenn mir die Präferenz dieser unwesentlich langsameren Linie in seltenen Ausnahmefällen, die mittlerweile leider die Regel bestätigen, die zwar unpassende aber stets willkommene Gelegenheit gab, während des Rennens/Trainings die Natur im Allgemeinen, Uferböschungen, Bodenbeschaffenheit und die Tapete meiner eigenen vier Wände im Besonderen, näher kennen zu lernen, hielt ich an ihr fest wie der Säugling an seinem Schnulli und ließ mich lieber von der eigentlichen Rennstrecke abbringen, als von ihr, der geliebten Kampflinie. Kürzlich gelang es mir sogar während des Trainings im Freien (!!), mit beiden Rennrad-Rädern (also mit Vorder- und Hinterrad) über einunddieselbe und wahrscheinlich im Umkreis von 1.000 Asphaltkilometern einzige Schraubenmutter zu dübeln. War aber selbstverständlich absolut notwendig, zur Verteidigung der: Führungsposition (die es ja auch im Training ab und an gibt, aber wem sag ich das). Der Junior hat mir dann auch gleich fair gratuliert (nicht nur zum Plattfuss...). Seit dem vorvergangenen Wochenende bin ich nun damit beschäftigt, meine Einstellung hinsichtlich der Ideallinie zu überdenken, ja, zu revidieren. Die jüngsten Erfahrungen im Bereich „Einer mit Steuermann gegen den Strom“ haben nämlich eines deutlich gemacht: Ideallinie ist ein Segen..., so man sie findet. Es liegt mir fern, dem Steuer-Boy mit - wie immer berechtigten - Vorwürfen die Fähigkeit abzusprechen, während des Rennens eine Linie zu fahren, die auch nur annähernd etwas mit dem tatsächlichen Verlauf der Rennstrecke gemeinsam hat. Man kann auch nicht meckern, wenn man ihn im Hegau oder auf der Alb gesehen hat, wie er gekonnt jede 90 °-Kurve meist außen angebremst, spät eingelenkt, dann am Scheitelpunkt innen angefahren und schließlich die gesamte Wegesbreite ausgenutzt hat, um das doch eher träge Vehikel unter extremer Beschleunigung heraustragen zu lassen (ich hätt´s jedenfalls nicht arg viel besser gekonnt). Und dafür, dass einerseits exorbitant hohe Zentrifugalkräfte an der Stabilität von Mensch, Fahrzeugrahmen und Kurvenlage zerrten (physikalischer Faktor), andererseits die jeweils ausgenutzten Wegesbreiten eher schmal und von Gräben, Äckern und Böschungen gesäumt waren (topographischer Faktor), kann er ja beileibe nichts. Nicht vergessen darf man, dass der Boy bei der Suche nach der Linie meistens ganz auf sich und seinen Instinkt gestellt war und jede einzelne Entscheidung innerhalb von Sekundenbruchteilen allein und ohne vorherige Rücksprache mit mir - dem Rennstrategen parexcellence - treffen musste. Schließlich waren die mir zu Gebote stehenden Möglichkeiten zur Streckeneinsicht erheblich eingeschränkt. Okay, vor dem Rennen auf der Landkarte die Ideallinie zum Abkürzen klar machen, das muss schon sein. Oder während des Rennens vorsichtig rechts oder links am dicht vor mir sitzenden Lenkvirtuosen vorbei nach vorne schauen, auch das war immer mal drin. Aber zur Entscheidungsgrundlage hätte ich das, was ich vorher auf der Karte studiert hatte und dann später mit Höllengeschwindigkeit auf uns zukommen sah, nicht machen wollen. Andererseits war mir bei der Schlamm-Passage im Wald von Trochtelfingen von vorneherein klar, dass die für uns nicht fahrbar sein würde. Diesbezüglich geäußerte Bedenken meinerseits wurden vom Führer in den kalten Ost-Wind geschlagen und versanken wenig später im knöcheltiefen Matsch (nein, nicht von Stalingrad!). Irgendwo in dem ganzen Dreck hat der Boy dann wohl doch wieder die Ideallinie entdeckt, jedenfalls sprang er plötzlich freudig erregt und völlig überstürzt (ich hatte den Eindruck: orientierungslos) auf das führer- und antriebslose Gefährt und - abdierakete - ochste in seine zwei Pedale, als wäre es die allerletzte und einzige Chance, ihr ohne weiteres Zögern zu folgen. Nur: In der ganzen Hektik und im Tran hatte ich es versäumt, ebenfalls wieder aufzusitzen. Ohne klare Befehle und eindeutige Kommandos geht in solchen Schlachten gar nichts. Außerdem machte ich mir Sorgen um die hinter uns infolge unvermittelter und unkontrollierter Bremsmanöver (staubedingt und letztlich verursacht durch den festgefahrenen „Zweier ohne Steuermann“) gestürzten Einzelkämpfer. Es waren ihrer viele, keine Ahnung wie es Rijöh und PapaP. geschafft haben, unbeschadet an uns vorbei zu schlittern. Nachdem ich mich innerhalb kürzester Zeit davon überzeugt hatte, dass diese bedauernswerten Tiefflieger nur deshalb so schlimm aussahen, weil sie über und über mit Schlamm bedeckt waren, und ich auch keine roten Spuren von Blut im braunen Dreck entdecken konnte, rief und lief (eher: watete) ich in blindem Gehorsam meinem davonstrampelnden Führer hinterher, der sich allen Ernstes darüber wunderte und dann aufregte, dass ich nicht da saß, wo ich hingehörte. Vollzählig und mit vereintem Kampfgeist klemmten wir in der Folgezeit mit Hilfe der sich dem Boy immer nur temporär (also: zeitlich begrenzt) offenbarenden Ideallinie sämtliche entstehenden Lücken und Abstände zu. Schlimm und ein Albtraum für jeden Steuermann: Wenn die deutlich sich abzeichnende, weil singuläre Linie sich dem Anschein nach fahrbar gibt, es aber tatsächlich nicht ist. So geschehen im Hegau, der Boy berichtete über die Laufeinlage auf dem (gefühlt: 20) kilometerlangen Trail. Blessuren sind da unvermeidbar, vermeintlich gute Ratschläge und Besserwisserei geborener Rennstrategen fehl am Platze (ich kann auch mein Maul halten). Erlaubt sind aber sehr wohl gutgemeinte Hinweise auf offensichtliche Hindernisse, die sich mitten auf der Ideallinie befinden, wie z.B. rot-weiße Schrankenaufliegerpfosten aus hartem Krupp-Stahl, an dem zwar jedes Kalkhoff problemlos vorbeibügelt, der jedoch das Rennsetup eines 2-Zylinder-Boliden empfindlich beeinträchtigt, wenn selbiger spätestens mit seinem lustigen Haltegriff aus dünnem Aluminium an jenem hängen bleibt. Aber deshalb fährt man ja im Rennzirkus in der Regel mehrere Runden, damit sich auch der eingeschränkt lernfähige Pilot solche Problemstellen anschauen und einprägen kann. Als gewiefter Rennstratege und begabter Copilot muss ich abschließend doch einräumen, dass ich während der letzten beiden Rennen einiges über Sinn und Unsinn von Ideallinien, nicht nur theoretisch, nein, auch in praxi, gelernt und begriffen habe. Die vielfältigen, mitunter auch nützlichen Erfahrungen will ich deshalb nicht nur im Rahmen dieses virtuellen Beitrags der Allgemeinheit zugänglich machen, sondern auch fürderhin im realen Renngeschehen umsetzen. Es liegt folglich auf der Hand und ist wohl für keinen Leser, der den Senior und seinen Eifer und Ehrgeiz kennt, eine allzu große Überraschung, wenn ich hier und jetzt ernsthafte Ambitionen auf das eigenständige, selbstvergessene und verantwortungslose Steuern eines Tandems anmelde! Ich bin mir sicher, dass ich mir Theorie und Praxis der Eigen- und Besonderheiten beim Zweier, etwa im Problembereich des Schaltwerks, genauso schnell aneigne, wie diese mords komplizierte Geschichte mit dem Lenken und der Ideallinie. Versprochen. Ich suche zwecks Qualifying und zur Vertiefung bereits vorhandener Fertigkeiten noch freiwillige Copiloten, bevorzugt aus dem Großraum TÜ. Geübt wird zu zweit nämlich sowohl auf - wenig befahrenen (!) - Schotter- und Waldwegen als auch auf diversen, mir vom Streckenverlauf durchaus hervorragend bekannten Singletrails im Schönbuch. Also: Wer, außer dem Staigerboy, stellt sich zur Verfügung? 

7 Kommentare:

staigerboy hat gesagt…

Ich setz mich ganz gewiss NICHT hintendrauf...ne!

Amselwade hat gesagt…

HA! Ich war jetzt schon das eine oder andere Mal (GP, München, Odenwald) dabei und kenne daher die Zweiradführungsqualitäten des Seniors aus nächster Nähe.
Sollte er euch fragen, lasst euch nicht von der Geilheit auf vorher nie erreichte Geschwindigkeiten zu etwas verleiten, an das Ihr dann sicherlich noch lange mit eiternden Schürfwunden erinnert werdet. Ignoriert ihn einfach, wenn es um ein Radsportduett unter seiner Führung geht. Besser, rennt davon!

Großen Respekt an dieser Stelle an den Staigerboy, der es schafft, nur mit der Kraft seiner beiden Bremszeigefinger diese unbegreiflichen Vortriebskräfte rechtzeitig [also meistens jedenfalls] in den Griff zu bekommen. Ich hätte vermutlich schon vorne drauf die Hosen voll.

Übrigens: Beim Schönbuch-Bike-Ride wurde ehrfürchtig von einem Zweimannrad berichtet, bei dem es selbst für kniebestrümpften Piloten (Platz 5) in Singen absolut unmöglich war auf Flachstücken auch nur kurz den Windschatten zu halten. Es vielen sämtliche Superlative im Zusammenhang mit dem Begriff Geschwindigkeit.

Herr Rijöh hat gesagt…

Danke für deine Gedanken zum Thema Ideallinie. Wirklich.

SebastianJP hat gesagt…

BEILEIBE NICHT, FÜRDERHIN und IN PRAXI ... Senior, du schreibst dein eigenes Buch und ich prdouziere dich....dann kaufen wir uns die Ideallinie!

Papa Pain hat gesagt…

Senior, willste nicht mein Diss schreiben?? wenn ich es schaffen würde diese ganze Abhandlung in dem Stil zu schreiben, das würde echt ein Bestseller der Wissenschaften werden :-)

Chapeau!

PapaP.

Na hat gesagt…
Dieser Kommentar wurde vom Autor entfernt.
Seniorchef hat gesagt…

Danke, PapaP., für die Blumen. Nimm´s mir bitte nicht übel, aber seriöse wissesnchaftliche Abhandlungen führen bei mir zu einer irreversiblen Schreibblockade, sorry. Danke, Amsel, für dein Vertrauen in meine Fahrkünste. Dass du persönlich die Hosen voll hast und dir die steile Karriere eines Copiloten entgehen lassen willst, mag man ja noch durchgehen lassen. Dass du schamloser Schädling aber offen zum Desertieren aufrufst, ist inakzeptabel. Es gab Zeiten, da stand auf sowas die Todesstrafe. Im übrigen rennt kein anständiger teutscher Kameradler einfach davon, Wo kämen wir da hin? Höchstens bis nach Pfrondorf, wo Wein, Weib und Gesang zuhause sind.